Geplatze Familienzusammenführung

 


Ein Schreck, ein Wok und ein bühnenreifer Abgang

Luise befand sich im Badezimmer, als sie ihren Sohn Merlin im Hauseingang rufen hörte. „Mama, bist du da?“ „Natürlich bin ich zu Hause. Wo soll ich denn um diese Uhrzeit sein?“, dachte sie bei sich, während ihr Blick auf die kleine Uhr im Regal des Spiegelschrankes fiel. Es war 22.45 Uhr und wenn ihr Sohn sie um diese Uhrzeit aufsuchte, dann war bestimmt irgendetwas im Busch. Normalerweise meldete er sich bei ihr sehr unregelmäßig. Er war seit zwei Jahren ausgezogen und lebte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Sein Besuch konnte demnach lediglich bedeuten, dass er entweder knapp bei Kasse war oder er hatte ein dringliches Problem mit seiner großen Liebe Nadia.

Merlin erwartete sie im Hausflur. Er wirkte ziemlich aufgeregt und fahrig. „Hallo, Mama. Kann ich dich mal sprechen“, legte er auch schon los, noch bevor Luise die unterste Treppenstufe erreicht hatte. „Klar. Was ist denn? Wenn du um diese Uhrzeit hier auftauchst, scheint es ja wirklich sehr dringend zu sein. Hast du irgendeinen Blödsinn angestellt?“ Luises Herz schlug ihr fast aus dem Halse heraus, so nervös war sie. Auch spürte sie, wie sich ihre Nackenmuskulatur ad hoc verspannte und sie ließ sich schnell auf einem Stuhl im Esszimmer nieder. Merlin nahm ihr gegenüber Platz und schon sprudelte er los: „Morgen Abend seid ihr zum Essen bei Nadias Eltern eingeladen. Ich hatte total vergessen, euch das zu sagen. Um 19 Uhr sollt ihr da sein.“ Luise starrte ihn entgeistert an und knurrte mürrisch: „Das ist alles? Deswegen schlägst du hier bei uns zu dieser nachtschlafenden Zeit auf und jagst mir einen so großen Schrecken ein? Hättest du nicht bis morgen warten oder mir eine Whats App schicken können? Merlin, du bist manchmal echt der Knaller.“ „Mama, ihr werdet doch kommen? Bitte. Mir ist das echt wichtig, weißt du.“ Merlin schaute sie mit seinen blauen Augen bittend an und er war sicher, dass seine Mutter bei diesem Blick weich würde. Schließlich hatte er ihn seit frühen Kindertagen bestens einstudiert und bislang konnte er mit diesem Blick seine Mutter immer aufs Neue erweichen und um den kleinen Finger wickeln. Außerdem wusste er ganz genau, wie sehr sie solche ominösen >Kennenlern-Treffen< verabscheute. Luise sah ihren Sohn mit einem durchdringenden Blick an und schnaufte: „Merlin, du wirst doch nicht beabsichtigen zu heiraten? Ist Nadia etwa schwanger?“ Entgeistert blickte Merlin seine Mutter an. „Ach; Mama. Was du nur immer wieder denkst. Nein, ich will weder heiraten, noch werde ich Vater oder du Oma.“ Luise bemerkte, wie sich ihr Magen bei dem Wort >Oma< sofort zusammenzog. Sie konnte sich zum jetzigen Zeitpunkt wirklich vieles vorstellen, doch nicht Oma zu werden, geschweige denn eine Oma zu sein. Für Luise waren Omas alt. Eigentlich uralt bis steinalt, fast schon fossile Tattergreise mit Nickelbrille, einem klappernden Gebiss und aschgrauem Haar. Doch sie fühlte sich mit ihren 56 Jahren auf gar keinen Fall alt, mit einer Ausnahme, wenn sie sich morgens aus dem Bett quälte und für diesen akrobatischen Akt gefühlt eine Stunde brauchte, bis sämtliche Knochen und Gelenke ihr gehorchten und nicht vor Schmerz aufbegehrten.

In Luise sträubte sich alles, wenn sie nur an Merlins große Liebe Nadia dachte. Ja, sie war wirklich eine Augenweide mit ihren langen blonden Haaren, ihrer 1,80 Meter Körpergröße und ihrem schlanken Körper. Nadias äußere Erscheinung konnte einem Mann mit absoluter Sicherheit den Atem nehmen. Doch sobald sie nur den Mund aufmachte, um mit einem ihrer ach so gehaltvollen Beiträge ein Gespräch zu bereichern, wurde deutlich, dass ihr ganz bestimmte neuronale Verknüpfungen definitiv fehlten. Luise musste sich jedes Mal innerlich zur Ordnung rufen, wenn ihr Sohn mit Nadia für einen kurzen Abstecher zu Besuch kam. Entweder stand Nadia im Hausflur, um sich zu strecken und zu recken, weil sie sich angeblich noch nicht gedehnt hätte oder sie riss jedes Gespräch an sich, um es mit ihren intergalaktischen Weisheiten voranzutreiben. Luise war es unbegreiflich, wie es Nadia bis in die 13. Klasse geschafft hatte. Im Prinzip hielt sie Nadia für strohdumm. Ihr Mann Ulrich war ebenfalls nicht so ganz von der Intelligenz Nadias überzeugt. Eines Abends, als sie bereits im Bett lagen, meinte er plötzlich trocken: „Die Nadia saugt ihre Luft bestimmt woanders an. Mir ist es ein Rätsel, wie sich Merlin mit ihr einlassen konnte. Wahrscheinlich hat sie ganz andere Qualitäten, von denen wir keine Ahnung haben“, rollte sich auf die Seite und war bereits auch schon eingeschlafen.

Nachdem Luise Merlin mehrfach versprechen musste, diese Einladung zum Abendessen anzunehmen, trollte er sich und strahlte beim Verlassen der Wohnung wie ein Honigkuchenpferd, während sich Luise überhaupt nicht wohl in ihrer Haut fühlte. Die Steins waren Großunternehmer und führten ein Leben, von welchem Luise nur träumen konnte. Denen konnten Luise und ihr Mann auf keinen Fall das Wasser reichen.

Am nächsten Morgen berichtete sie ihrem Mann von der Einladung zum Abendessen. „Ulli, ich habe überhaupt keine Lust zu den Steins zum Abendessen zu gehen. Ich möchte mal wissen, was wir da sollen. Die spielen doch in einer ganz anderen Liga als wir. Hast du nicht eine Idee, wie wir uns vor dieser Zwangszusammenkunft drücken können?“ Ihr Mann blätterte nach wie vor gelassen in der Tageszeitung und starrte Luise nach dem dritten „U L L I! Nun sag du doch auch mal was“ fragend an. „Ach, Luise. Was soll denn schon sein? Geh es doch mal locker an. Wir essen lecker und verschwinden dann wieder. Außerdem sind die Steins auch nur Menschen. Jetzt beruhige dich und so schlimm wird’s schon nicht werden.“ Luise war kurz vorm Explodieren. Noch nicht einmal ihr Mann verstand sie. „Über was sollen wir uns denn mit denen unterhalten? Ich weiß doch gar nicht, wie die ticken. Das wird bestimmt ein Katastrophenabend“, seufzte Luise. „Luise, jetzt gib endlich Ruhe!“, knurrte sie ihr Mann an und damit war für ihn das Gespräch beendet.

Mit einem Blumenstrauß in der einen und einer guten Flasche Rotwein in der anderen Hand standen Luise und ihr Mann pünktlich um 19 Uhr bei Familie Stein vor der Haustür. Herr Stein öffnete, begrüßte sie freundlich, fast schon überschwänglich, und führte sie ins Wohnzimmer, welches eher den Charakter eines Antiquitätenladens hatte. Dort wurden sie bereits von Frau Stein in einem eleganten blauen Kostüm mit weißem Blüschen erwartet, die sie freundlich begrüßte und zuerst Ulrich und anschließend Luise umarmte. Es fehlte nur noch das obligatorische Küsschen links und rechts auf jede Wange. Luise wich automatisch einen kleinen Schritt zurück. Sie wollte nicht von jedem Menschen umarmt werden und erst recht nicht, wenn man sich gerade das erste Mal begegnete. Ihr war bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, dass es sich bei dieser Zusammenkunft um eine Familienzusammenführung handeln sollte. Oha, die Kollision zweier Welten stand bevor. Mittelstand traf also auf finanzielles Schwergewicht. Jeans auf Anzug und Kleidchen auf Kostüm. Luise fühlte sich nur schon beim Anblick dieser beiden sehr gut gekleideten und mächtig herausgeputzten Personen unwohl. Nachdem man mit Champagner angestoßen hatte, sagte Herr Stein zu Luise und ihrem Mann: „Ich bin der Meinung, dass wir uns duzen sollten. Also ich bin der Horst und meine Frau heißt Annette. Prösterchen!“ Luise stockte der Atem. Wollte sie diese beiden Fremden sofort mit einem vertrauten Du ansprechen? Nein. Wollte sie auch nur noch eine Sekunde länger bleiben? Nein. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, antwortete ihr Mann auch schon: „Das ist eine gute Idee. Ich heiße Ulrich und meine Frau heißt Luise.“ Die Gläser klirrten und Luise nahm sofort einen sehr großen Schluck Champagner. Sie dachte: „Nein. Das wird heute nicht gut ausgehen. Auf gar keinen Fall. Diese Pseudo-Freundlichkeit und dieses >Wir-haben-uns-alle-lieb-Getue< geht mir jetzt schon auf den Geist.“

Die große Flügeltür wurde geöffnet. Merlin und Nadia erschienen strahlend im Wohnzimmer. „Mamilein, wir sind fertig und haben den Tisch gedeckt. Wir können jetzt anfangen“, flötete Blondie Nadia ihrer Mutter kindlich entgegen, während sie wie immer gymnastische Übungen machte. „Wir haben uns gedacht“, sagte Annette zu Luise und Ulrich, „dass es so schön wäre, wenn wir gemeinsam etwas kochen. Daher haben wir verschiedene kleine Leckereien vorbereiten lassen, die jeder von uns nacheinander im Wok zubereitet. Dann haben wir auch mehr von dem Abend und es wird bestimmt richtig spaßig, nicht wahr?“ Luise glaubte an ihrem Schluck Champagner zu ersticken. Hatte sie diese Annette richtig verstanden? Sollte jeder der Anwesenden ein Gericht in diesem Wok zubereiten? Spätestens jetzt war es für Luise klar, dass sie sich auf Konfrontationskurs begeben wollte und fragte scheinheilig: „Ach. Wir kochen selbst? Ich dachte, das würde euer Koch für uns erledigen“ „Siehst du Horst, selbst Luise ist der Meinung, dass wir unbedingt einen Koch brauchen“, und blickte Luise voller Dankbarkeit an. Horst entgegnete nur: „Damit du noch mehr Zeit für deine Gäule hast. So weit kommt’s noch.“

Das Essen nahm seinen Lauf. Zuerst begann Annette eine Kleinigkeit im Wok zu zelebrieren. Indonesisch wäre ihr gerade in den Sinn gekommen, gab sie überkandidelt kund. Außerdem hätten sie just in diesem Moment die erlesenen Gewürze, die erst kürzlich aus dem Feinkostladen angeliefert wurden, angesprochen und inspiriert. Luise schaute Ulrich an und rollte mit ihren Augen. Ulrich grinste Luise lediglich an und versuchte sie mit Blicken zu besänftigen. Währenddessen plapperte Annette unaufhaltsam auf Luise ein. Eine Frage nach der anderen prasselte auf Luise nieder: Wo sie ihren Wellnessurlaub machen würde, welche Interessen Luise hätte und schließlich auch die Frage nach ihrem Beruf. „Dieses scheinheilige Biest“, dachte Luise, „Sie weiß genau, dass ich Lehrerin bin. Jetzt kommt bestimmt wieder das Thema Schule auf den Tisch.“ Anfangs machte Luise noch gute Miene zum bösen Spiel, aus Rücksicht auf ihren Sohn, der sie immer wieder strahlend anschaute. Ja, er schien sich wirklich in dieser Familie wohlzufühlen, obwohl sich Annette und ihre Intelligenzbestie Nadia momentan über Merlins ungenügende Englischkenntnisse lauthals lustig machten. „Reiß dich zusammen, Luise“, ermahnte sie sich gedanklich, „Halte einfach deinen Mund. Merlin zuliebe.“  

      
Auch Ulrich konnte sich auf diesen Abend einlassen. Er wirkte entspannt und unterhielt sich mit Horst sehr angeregt über Motorräder und Motorradtouren. Luise blieb fast die Luft weg, als sie ihren Mann komplett zwanglos kochen sah. Ihm schien es auch noch Freude zu bereiten. Da die Portionen ziemlich klein ausfielen beschloss Luise, sich vermehrt dem Wein zuzuwenden. Annette hielt nicht für eine Minute den Mund und redete unaufhaltsam auf Luise ein. Sie kritisierte das Schulsystem, zog über Nadias Lehrkräfte her und stelle deren Kompetenz deutlich infrage. Auch Blondie Nadia wusste einiges zu berichten und wartete mit unglaublichen Geschichten aus ihrem schulischen Alltag auf. In Luise brodelte es immer mehr und sie rief sich innerlich fortwährend zur Ordnung, doch als diese Schnatterbase Annette zu ihr sagte, dass Lehrkräfte eindeutig zu viel Gehalt beziehen würden, war es mit Luises Beherrschung aus. „Jetzt mach mal halblang. Wir Lehrer bekommen eindeutig zu wenig Gehalt. Für das, was wir täglich ertragen und erdulden müssen, würde uns auf alle Fälle das Doppelte zustehen. Aber das kannst du ja nicht im Ansatz nachvollziehen. Du musst ja auch nicht arbeiten gehen, sondern lässt für dich arbeiten. Wie wäre es, wenn du dich mal von deinem hohen Ross herunter begibst und in der Wirklichkeit ankommst?“ Ad hoc herrschte Totenstille am Tisch. Horst fiel fast die Gabel aus der Hand und selbst Ulrich starrte Luise fassungslos und entgeistert an. Merlin schnaufte laut. Nadia sprang urplötzlich vom Tisch auf, machte erneut undefinierbare Dehnübungen und fragte unbeteiligt: „Wer ist denn jetzt mit dem Kochen dran?“ Luise erwiderte eiskalt: „Ich. Doch da ich jeden Tag in der Küche stehe und mir ständig ein Rezept ausdenken muss, werde ich bestimmt nicht kochen. Schließlich bin ich nicht zum Kochen hier“, und reichte den Kochlöffel grinsend an die erstarrte und verstummte Annette weiter.

Horst war der erste, der sich aus seiner Schockstarre löste und Luises Mann fragte, so als wäre nichts vorgefallen: „Sag mal Ulrich, wohin fahrt ihr denn gerne in den Urlaub? Also wir waren erst vor 4 Wochen in der Türkei auf unserem Boot. Das war ein wirklich schöner und entspannender Urlaub. Und davor waren wir für 4 Wochen auf Hawaii und haben dort einen guten Freund beim Iron Man angefeuert und unterstützt. Natürlich haben wir auch ein bisschen Urlaub gemacht. Annette liebt es, mit den Delfinen zu schwimmen, wenn sie nicht auf irgendeinem Gaul das Glück dieser Welt sucht.“ Bevor Ulrich auch nur den Mund aufmachen konnte, um etwas zu erwidern, schnellte Luise vor und herrschte Horst an: „Ich brauche weder ein Boot, die Türkei, eine Shoppingtour in New York, noch das Schwimmen mit Delfinen. Ich muss mich auch nicht besser fühlen, nur weil ich mir Wellnessurlaube, Paragleiten, Segwayfahren und was weiß ich noch alles finanziell erlauben kann. Dadurch bin ich kein besserer Mensch. Mir reichen meine Wanderschuhe, ein Rucksack, entsprechende Kleidung und ein Stück Natur, denn mich selbst nehme ich immer mit, egal wohin auch gehe. Wenn ich mit mir im Reinen bin, kann ich auf diesen Pomp sehr gut verzichten. Und wenn wir alle hier unseren Löffel abgeben, dann gehen wir ganz bestimmt nackt. Und dort, wohin wir dann kommen werden, gibt es mit Sicherheit keine Klassengesellschaft. Da sind wir nämlich alle gleich. Und das ist auch gut so. Punkt.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen meinte Horst trocken: „Na, das sollte ich in dieser Familie mal vorschlagen. Da wäre aber was los, kann ich dir sagen. Da könnte ich glatt einpacken und ausziehen“, und blickte währenddessen seine Frau eindringlich an.

Nach Luises Ansprache war der Abend restlos gelaufen. Annette saß wie eine versteinerte Statue am Tisch und sagte nichts mehr. Nadia turnte wieder einmal neben dem Tisch herum. Merlin hatte sich in sein Glas mit Whisky verkrochen und Horst fixierte seine Frau nach wie vor mit Argusaugen. Ulrich warf seiner Frau ein süffisantes Lächeln zu und mahnte schließlich zum Aufbruch. Luise schloss sich ihm kommentarlos an und beide verabschiedeten sich höflich von den Steins. An der Haustür umarmte Merlin seine Mutter und flüsterte leise: „Mama, du bist heute Abend echt aus dem Rahmen gefallen. Aber ich fand deinen Auftritt auch unglaublich cool.“ Er gab ihr einen Kuss und zwinkerte ihr zu. Als Ulrich und Luise zu ihrem Wagen gingen, fragte Luise: „Ulli, meinst du, dass ich mich morgen bei den Steins entschuldigen müsste?“ „Nö. Warum denn? Die Wahrheit braucht keine Entschuldigung“, sagte Ulli und öffnete ihr höflich die Wagentür.

Dieses Abendessen war nicht folgenlos geblieben: Die Steins hatten sich knapp ein halbes Jahr später getrennt, Nadia trennte sich von Merlin und um das Unternehmen stand es gar nicht gut. Die einzigen, die sich weiterhin in ihrem Mittelstandleben wohl fühlten, waren Luise und Ulrich und an manchen Tagen konnte Luise sich das kleine verschmitzte Lächeln nicht verkneifen, wenn sie an dem Firmengelände der Steins in Richtung Discounter fuhr.

 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Gefangenenblues

Anhalten

Brief an meinen Sohn