Freundschaft
Amicitia
227,760 Stunden gemeinsame Wellenlänge. In Minuten gerechnet bedeutet das: 13.665,600 Minuten Verbundenheit. In Jahren ausgedrückt: 26 Jahre gemeinsame verbrachte Zeit. 9.490 Tage, in denen wir in Resonanz miteinander waren. Seit 12 Monaten ist die Verbindung zwischen uns abgebrochen. Ein Störsender funkt auf seine eigene individuelle Art und Weise Störsignale, sodass die beiden Sender und Empfänger nur noch das beharrliche Rauschen und Knarren im Äther wahrnehmen.
Da, es knarrt wieder und ich versuche meinen Empfänger so einzustellen, dass ich das ausgesendete Signal deutlich empfangen kann. Ich drehe das kleine Rädchen mal nach rechts und dann wieder ein klein bisschen nach links. Rauschen. Nichts als dieses unerbittlich schräg klingende Rauschen in meinem Empfänger. Ich sende „Ich kann dich nicht verstehen“, aus und warte gespannt auf eine Reaktion. Nichts! Nur dieses endlose Knirschen, Rauschen und Knacken dringt an meine Ohren. Ich gebe nicht auf und sende täglich mehrere Signale aus, die jedoch in der großen weiten Welt der Strahlen und Schwingungen in die Irre laufen, sich in der großen Matrix verlieren, bis sie schließlich wieder an ihrem Ausgangspunkt ankommen. Ich lausche meinen Signalen.
Ich sende „Was ist los mit dir?“, und ich frage mich im gleichen Atemzug, was mit mir los ist. Was habe ich verloren, dass ich etwas los bin? Habe ich etwa Ballast abgeworfen oder bin ich einen Teil meiner Täuschungen los? Ich sitze und lausche und mein Empfänger bleibt stumm. „Habe ich die richtige Frequenz eingestellt?“, schießt es mir durch den Kopf. Ich schalte von Kurzwelle auf Langwelle um. Nichts. Auch hier rauscht es. Wie ich dieses Rauschen mittlerweile hasse. „Warum hasse ich das Rauschen?“, frage ich mich im Stillen. Da schreit mich mein Gesicht im Spiegel an „Weil du glaubst, dass es dich nun nicht mehr gibt.“ Natürlich gibt es mich noch, denn ich sitze gerade vor meinem Funkgerät und versuche mit der anderen zu kommunizieren. Ignoriert sie mich oder ist vielleicht nur die Funkverbindung abgerissen? „Dafür wird es bestimmt eine Erklärung geben!“, versuche ich mich zu beruhigen. „Wenn ich nur die richtige Wellenlänge finde, dann habe ich den Kontakt wieder hergestellt, dann ist alles wieder gut!“ Ich versuche mein Funkgerät neu einzustellen und neu zu programmieren. Nichts. Funkstille!
Ganz plötzlich werde ich wütend und hämmere wie wild auf mein Funkgerät ein. „Du blödes Ding!“, brülle ich es an, „Kannst du noch nicht einmal mehr ihre Funkwellen empfangen? Willst du mich etwa ärgern?“ Das Funkgerät schweigt und ich glaube zu sehen, dass es mich dabei auch noch hämisch angrinst. Jetzt werde ich noch wütender und bediene wahllos die Tasten. Tränen der Wut und auch der inneren Verzweiflung finden endlich ihren Weg nach draußen und es scheint mir, als spüre ich aber auch so etwas wie einen Hauch Befreiung. „Ja, wollte ich nicht immer frei sein? Suchte ich nicht jahrelang danach, wie ich mich frei machen konnte?“ Freiheit! Das Wort klingt gut. Es gibt mir Mut und Kraft. Schon als Kind hatte ich die Zugvögel um ihre Freiheit beneidet, im Spätherbst in wärmere Länder ziehen zu dürfen. Frei sein von gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen, frei sein im Denken und letztlich auch innerlich frei zu sein, mich nicht mehr ständig verbiegen und verdrehen zu müssen, nur damit ich anderen Menschen gefalle und sie mich mögen. Wie oft hatte ich mich selbst und meine Überzeugungen in den letzten Jahren an ein Kreuz genagelt? Sehr oft.
Da, es knarrt ganz plötzlich in meinem Empfänger und ich drehe erneut an diesem kleinen Rädchen. „Du …“ – „… verletzt.“ – „… hast Schuld“, sind die Wortfetzen, die zu mir durchdringen. Danach wieder dieses endlose Knarren und Rauschen. Ich raufe mir die Haare, bin jetzt so verzweifelt, dass ich am liebsten laut schreien möchte. Stimmt nicht. Am liebsten würde ich durch die Leitung kriechen und möchte sie einmal so richtig heftig schütteln, nur bis sie zu Verstand kommt. Ich funke: „Mit was habe ich dich scheinbar so heftig verletzt, dass du mir Schuld gibst?“ Stille. Nichts. Keine Resonanz, kein Laut dringt an meine Ohren. Diese nicht enden wollende Stille, macht mich noch verrückt. Ich funke nochmals: „Nun sag schon, warum du dich so verletzt fühlst!“ Noch immer Stille. Erneut justiere ich meinen Empfänger, versuche ihre Frequenz zu finden. Es klappt nicht.
Früher funktionierte das Senden und Empfangen problemlos. Selbst wenn nur einzelne Wortfetzen durchkamen, konnten wir mühelos decodieren. Wir hatten eben den gemeinsamen Code und auch die gemeinsame Wellenlänge. Ja, früher. Da klappte die Verständigung. Manchmal reichte es auch nur aus, dass der Empfänger eingeschaltet war. Wir hatten die gleiche Frequenz eingestellt. Unsere Sender und Empfänger waren aufeinander eingestellt. Ich gebe nicht auf und platziere mein Funkgerät an einen anderen Ort in meinem Zuhause. Vielleicht hat sich ja nur die Schwingungsfrequenz in meiner Umgebung geändert? Hoffnung keimt auf. Die stille und heimliche Hoffnung, endlich zu ihr durchzudringen. Ich schalte erneut mein Funkgerät an und lausche der nicht enden wollenden und mich zermürbenden Stille.
Ich sende: „Können wir nicht miteinander reden und das aus dem Weg räumen, was scheinbar zwischen uns steht?“ Noch während ich diese Wörter funke, frage ich mich ernsthaft, warum ich das mache. Warum kann ich nicht ruhen? Schnell schicke ich noch: „Ich möchte es verstehen“, hinterher. Die Nadel des Empfängers bewegt sich nicht. „Sprich doch mit mir! Bitte!“, funke ich. Noch immer bleibt es still. Ich stiere dieses dämliche Funkgerät an und stehe kurz davor, es vor lauter Wut an die Wand zu werfen.
Plötzlich dringt ein Gedanke in mein Bewusstsein, der mich sehr nachdenklich werden lässt: Jeder Mensch sendet in seinem Leben tagtäglich eine unglaublich große Flut an Botschaften aus, wobei es egal ist, ob sie ausgesprochen oder nonverbal sind. Mal nehmen wir diese Botschaften wahr und mal könnten wir schwören, dass sie gar nicht existiert haben. Stimmt, denn es kommt darauf an, ob diese Botschaften es schaffen, ungehindert durch unsere Wahrnehmungsfilter durchzukommen. Manchmal bleiben sie nämlich einfach in diesem Filtersystem hängen und dringen nicht zu uns vor. Dazu kommt noch, dass innerhalb von Nanosekunden jede ankommende Botschaft von unserem Gehirn mit bereits Bekanntem abgeglichen wird und entsprechend der persönlichen bisherigen gemachten Erfahrungen und Gefühlen reagiert. Im wahrsten Sinne des Wortes bleibe ich an diesem Gedanken kleben. Dieser Gedanke macht etwas mit mir, lässt mich etwas ruhiger werden. „Was ist, wenn sie meine Funksprüche anders decodiert hat, als ich es meinte?“, höre ich mich das Funkgerät laut fragen. Es schweigt.
„Du hast mich nicht verstanden. Mir geht es schlecht und daran hast du schuld. Du redest nicht mehr mit mir. Außerdem bist du undankbar. Ich habe doch so viel für dich getan. Du bist so egoistisch und denkst nur noch an dich“, lautet der Funkspruch, den mein Funkgerät empfangen hat. Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht da. Ich war einfach mal spazieren. Ich höre die Aufzeichnung und stolpere bereits zum zweiten Mal über das Wort „Schuld“ und spüre, wie sehr ich dieses Wort hasse. Es ist so einfach, immer wieder von Schuld zu reden und anderen Menschen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Nur keine Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen! Jetzt bin ich wütend. Es ist ja auch leichter, wenn man stets das Opfer sein kann. Dann muss es nämlich immer auch einen Täter geben und dieser trägt natürlich die Schuld. Ich brülle das Funkgerät an: „Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass jedes Opfer auch zugleich ein Täter ist?“, und merke, wie traurig ich in Wahrheit bin.
Da, gerade in diesem Moment spüre ich, wie sich etwas in mir regt. Ich spüre, wie sich die Worte „Kannst du mir vergeben?“ leise auf meinen Lippen formen und sich mein Herz öffnet. Obwohl sich mein Verstand noch wütend und verwirrt zeigt, gelingt es meinem Herzen sich mehr und mehr zu öffnen. Eine wohlige Wärme durchflutet mich, an die sich schnell ein Gefühl anschließt, welches mich hält und trägt. Ich habe das Gefühl, dass sich so ganz unvermittelt mein Bewusstsein auf eine andere Ebene begeben hat und ich nun deutlich und klar erkenne. Ich fange langsam an zu begreifen und bediene zum letzten Mal mein Funkgerät. Ich sende: „Meine liebe Freundin. Wir sind 26 Jahre auf einem gemeinsamen Weg gegangen, doch leider haben wir vergessen, uns miteinander vertraut zu machen. Jede von uns hat sich der anderen so gezeigt, wie sie wollte, dass sie von ihr wahrgenommen wird. Jede von uns hat die andere so wahrgenommen, wie sie die andere wahrnehmen wollte, wie sie sie sehen wollte. Wir sehen nur das, was auch in unserer eigenen Welt, also in uns drinnen, vorhanden ist. Alles andere ist für unsere Augen nicht sichtbar. Wir haben vergessen, uns mit dem Herzen zu sehen, denn dann müssten wir nun nicht voneinander ent - täuscht sein. Obwohl mein Verstand noch immer mit mir ringt, habe ich dir vergeben und ich bete darum, dass auch du mir eines Tages vergeben wirst. Ich lasse dich los und somit auch meine Vorstellung von der Frau, die ich dachte, in dir zu sehen. Ich wünsche mir so sehr, dass auch du das Bild von mir loslässt, welches du in den vergangenen Jahren von mir hattest. Das ist schmerzlich, doch auch befreiend, denn dadurch hast du mir unbewusst geholfen, ein Stück von mir selbst zu finden. Dieses Jahr der Funkstörung und Sendepausen hat mich stärker und mutiger gemacht, meinen eigenen Weg zu finden und ihn endlich zu gehen. Dafür bin ich dir dankbar. Dein beharrliches Schweigen hat mich gelehrt, dass ich an meinen seelischen Qualen und Schmerzen wachsen und reifen konnte, und ich ganz langsam beginne, mich nun der Welt so zu zeigen, wie ich bin. Ich weiß, dass du dein Bestes gibst, so wie auch ich mein Bestes gab und noch immer gebe. Das lässt mich demütig werden, denn kein Mensch ist vollkommen. Schon lange funken wir beide auf anderen Frequenzen und das darf sein. Doch egal, wo du bist und welche Botschaften du funkst, wir können uns nicht verlieren, da wir stets miteinander verbunden sind. Ich sehe dich und vermag nun auch in dir zu sehen, was in mir ist. Mögen dich die Sterne auf deinem Weg begleiten und möge dich dein Herz sicher führen. Ich wünsche dir, dass du Frieden schließt und gnädig bist. Erinnere dich an die schönen Augenblicke unserer Freundschaft und verliere das Hässliche aus den Augen.“
Ich weiß nicht, ob sie diesen Funkspruch jemals erhalten hat. Vielleicht kommt er ja etwas zeitversetzt und einige Jahre später bei ihr an?
Diese Freundschaft existiert bereits seit vielen Jahren nicht mehr. Sie ist entzweit und mein Herz sagt mir, dass es gut ist.
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