Brief an meinen Sohn


 

Ich schreibe diesen Brief, um mich bei dir zu entschuldigen. Du kamst auf diese Welt und ich hoffte, dass du es einmal besser haben würdest. Du solltest frei aufwachsen können und ich erzog dich dazu, dass du ohne Angst vor möglichen Repressalien deine Meinung frei äußern kannst. Ja, ich forderte dich stets regelrecht dazu auf, deinen Blick zu schärfen, um auch einmal bestimmte Dinge weit über den Tellerrand hinaus zu beleuchten. „Lerne, bilde dich fort und erweitere deinen Horizont“, hieß mein Credo für dich. „Glaube nicht immer, was du siehst. Manchmal könntest du auch auf eine Illusion hereinfallen.“ Mein Sohn, wir waren nicht sehr vermögend und hin und wieder bemerkte ich schon deine neidvollen Blicke, wenn andere Kinder Dinge hatten, für die bei uns kein Geld zur Verfügung stand.

Doch etwas gab ich dir, und zwar uneingeschränkt: Meine Liebe und mein Vertrauen in dich. Auch wenn ich nicht immer mit allem einverstanden war, was du so angezettelt hattest, so vertraute ich darauf, dass du gerade dabei warst, wichtige Lektionen zu lernen. Ich ließ dich lernen und bin heute so unendlich stolz auf dich. Dein Lebensweg verlief in der Vergangenheit häufig sehr kurvenreich und war phasenweise mit vielen Umleitungen gespickt. Manchmal sorgte ich mich, doch heute weiß ich, dass dies dein eigener Weg war und vielleicht auch noch eine gewisse Zeit lang sein wird.

Ich wünschte mir für dich wirklich ein besseres Leben. Keine finanziellen Engpässe, viel Liebe und Glück. Klingt das jetzt naiv? Mag sein. Vielleicht ist es auch nur der heimliche Wunsch einer alternden Mutter, ihren Sohn in Sicherheit zu wissen, bevor sie selbst abtritt. Wer weiß?
Wir kamen immer irgendwie zurecht und schlugen uns mal besser, mal schlechter durch unseren Alltag, der wahrlich nicht immer leicht zu bewältigen war. Ich war dir Mutter und Vater zugleich und merkte nach geraumer Zeit, dass das nicht möglich war. Warum sich dein biologischer Vater aus seiner Verantwortung stahl, werde ich dir leider nicht beantworten können und daher schweige ich zu diesem Thema. Besser ist das.

In unserer kleinen Welt, unserem winzigen Mikrokosmos ging es uns gut. Ich lehrte dich viele Dinge, z.B. Empathie, Ordnung, Disziplin, Demut, Gnade, Gerechtigkeit, Fürsorge, Mitgefühl und vor allen Dingen Respekt und Höflichkeit. Heute frage ich mich, ob ich da nicht einen großen Fehler gemacht habe? Leider hat sich die Welt und mit ihr die Menschen, die diesen Planeten bevölkern, verändert. Was zählen heute noch die bereits genannten Werte? In was habe ich dich sehenden oder blinden Auges hineinschlittern lassen? Als du ein kleines Kind warst, war es dir kaum möglich, an einem Bettler vorbeizugehen, ohne diesem ein paar Pfennige von deinem Taschengeld abzugeben. Jedes Mal strahltest du über das ganze Gesicht, wenn du jemandem etwas von dir abgeben konntest. Du hattest schon immer die Gabe, direkt in die Herzen der Menschen zu blicken. Auch war es dir unmöglich, Unrecht zu ertragen. Weißt du noch, dass du (damals warst du 4 Jahre alt) ein anderes kleines Kind quer über das Schwimmbadgelände zu seiner Mutter gebracht hattest, obwohl sich die Mutter im Streit von ihrem Kind entfernt und es bewusst alleine zurückgelassen hatte? Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Deine Augen waren schreckensweit geöffnet und kleine Tränchen sammelten sich bereits in ihnen. Für dich war es ein Ding der Unmöglichkeit, dass eine Mutter ihr eigenes Kind alleine lassen konnte. Die umliegenden Badegäste staunten nicht schlecht, als du kleiner Knirps mit deiner naiven Logik diese Mutter vor allen vorgeführt hattest. Dein einziger Kommentar war: „Das darf eine Mama doch nicht machen. Eine Mama passt auf ihr Kind auf.“
 

Ja, so bist du noch heute. Doch leider existieren diese Werte kaum noch innerhalb der breiten Masse der Bevölkerung. Heute ist sich jeder Mensch sein eigener Bauchnabel und kreist nur um sich selbst. Von einem achtsamen, respektvollen Miteinander sind wir leider sehr weit entfernt. Scheinbar gibt es zunehmend mehr Narzissten und Soziopathen unter uns. Diese kommen mir vor, als wären sie die neuen Marktschreier, die den Menschen ihre Meinung aufdrücken oder überstülpen wollen. Die Ramschware Solidarität, das Recht auf die Unversehrtheit des eigenen Körpers, die freie Meinungsäußerung oder die Menschenwürde sind gerade im Ausverkauf und werden an jeder Straßenecke verhökert. Vielleicht wird demnächst auch noch das Recht auf sein eigenes Denken als Zusatzprodukt verjubelt.

 
Ich gehöre bereits zur alten und ergrauten Generation in diesem Land und ich komme zu dem traurigen Schluss, dass wir Erwachsene keinen guten Job gemacht haben. Uns haben das Streben nach Macht und Gier kalt und blind werden lassen. Wir haben vergessen, was und wer wir sind: Menschen. Menschen mit Herzen, Seelen und Körper. Wir haben die Menschlichkeit und das Recht auf ein Anderssein ins Exil verbannt. Heute gilt es, dem Mainstream zu folgen. Wie die Lemminge, die blind folgen, um sich dann möglicherweise von einer Klippe in den Tod zu stürzen. Wo finden sich heute noch charismatische Menschen, die ein wahres und echtes Interesse an den anderen haben?

Ich habe dich das Sprechen gelehrt und immer darauf geachtet, dass du dich gut artikulieren kannst und bei der Auswahl der Wörter achtsam bist. Nun ja. Während deiner pubertären Phase war meine Sprech- und Spracherziehung eher ins Stocken geraten, doch glücklicherweise fandest du wieder auf den alten Weg zurück. Außerdem kanntest du die Höflichkeitswörter „Bitte“ und „Danke“. Mittlerweile stehen auch diese zwei kleinen Wörter schon zum Verkauf. Selbst Leserbriefe in Tageszeitungen werden zunehmend sprachlich unhöflich und respektlos. Was denken sich bloß diese Menschen, die in ihren Leserbriefen andere mit Attributen „irre“ und „gestört“ behaften? Ich schäme mich. Ich schäme mich fremd und ich entschuldige mich bei dir, meinem Sohn, dass du in einer solchen Gesellschaft leben musst. Ich hätte dir wirklich eine freundlichere und menschlichere Gesellschaft gewünscht. Und schon wieder komme ich zu dem Schluss, dass wir Alten versagt haben.

Jetzt werden auch noch Menschen ausgegrenzt, diffamiert und öffentlich ihrer Freiheit beraubt. Offiziell dienen sämtliche Maßnahmen nur zu ihrem eigenen Schutz. Mein liebes Kind, ich bin traurig. Ich bin verstört, sprachlos und fühle eine tiefe Ohnmacht in mir aufkeimen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, betete ich dir jahrelang wie in einem Mantra vor. Ich erklärte dir die Bedeutung dieser Worte und warum es diesen Artikel in unserem Grundgesetz gibt. Ein unumstößliches Mahnmal. Ein „Erinner-mich“ an vergangene Zeiten, in denen Menschen ihre Würde genommen wurde, nur weil sie angeblich einer minderwertigen Rasse angehörten. Diese Menschen wollte man anfangs auch vor sich selbst schützen und man nahm ihnen nach und nach das Recht am öffentlichen Leben teilzuhaben. Als man mich dieses in der Schule lehrte, konnte ich nicht glauben, dass bei diesem unmenschlichen Akt auch nur ein Mensch mitgemacht haben sollte. Doch leider wurde ich eines Besseren belehrt. Damals waren es jüdische Menschen und heute? Fast hätte ich geschrieben, dass es Ungeimpfte sind. Aber nur fast. Dieses Jahr 2021 ist ein Jahr, an das ich mich nicht mehr erinnern möchte. Wir haben mittlerweile eine entzweite Gesellschaft und die neuen Sündenböcke sind bereits benannt. Jetzt gilt es nur noch, sie zu kennzeichnen, abzusondern und sie ihrer Rechte zu berauben, wobei ja alles nur zu ihrem eigenen Schutze und dem Schutz der Allgemeinheit dient. Was habe ich dir immer beigebracht? Man kann sich alles so drehen, wie man es braucht. Mein Kind, ich flehe dich an. Benutze deinen scharfen Verstand. Sei stark und standhaft, auch wenn dir ein eisiger Wind ins Gesicht bläst. Stehe für dich ein, vergiss aber auch nicht, für die Schwachen und Wehrlosen einzustehen und ihnen deine Solidarität zuzusichern. Kämpfe im Namen der Liebe und ziehe nicht aus Hass, Neid oder Gier in einen Krieg.

Ich hoffe sehr, dass ich noch genug Kraft haben werde, um mit dir – Seite an Seite – zu stehen. Die Dunkelheit greift mit langen Schatten bereits um sich und zieht täglich viele Menschen in sich hinein.

Mögest du bitte nachsichtig mit mir sein. Auch wenn sich die Welt gerade selbst verschlingt, sollst du wissen, dass ich es versucht habe. Ich habe es ehrlich versucht, im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten, etwas Licht ins Dunkel zu bringen und dir eine Welt zu erschaffen mit Wärme, Licht, Glaube und Liebe.

Der letzte Akt hat begonnen. Der Vorhang ist geöffnet. Ich bin bereit für meine letzte Aufgabe, auch wenn es mich mein Leben kostet. Du bist es mir wert. Vergiss niemals, wie sehr ich dich liebe.

Deine Mutter

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